Hier ist das erste Kapitel von meinem Buch Symbiose (Schicksal). Sollte es euch gefallen, könnt ihr es bei Amazon, Hugendubel, Neobooks, Bookrix und vielen anderen Onlineshops kaufen. Bald ist auch die Möglichkeit, es ausdrucken zu lassen.
KAPITEL 1
Stampfend suchte ich in dieser öden Gegend einen Felsen, hinter dem ich
mich verstecken konnte. Ich brauchte eine Zigarette. Fabienne meine kleine,
sehr beeinflussbare 11 Jährige Schwester, wusste nicht wirklich, dass ich
rauchte und das sollte sie weiterhin nicht. Früher rauchte ich mehr. Doch nun
sollte ich eine zweite Mutter für Fabienne sein. Also versuchte ich, es auf ein
Minimum zu reduzieren. Aber ich war gerade überfordert. Was für eine große
Enttäuschung ich doch war. Ich konnte uns nicht mal in ein Motel bringen ohne
einen Ausbruch meiner Gefühle. Nachdem ich einen Felsen hier im Nirgendwo
entdeckt hatte, bückte ich mich und holte mit zittrigen Händen die Zigaretten
und das Feuerzeug heraus. Ich zog den Rauch tief ein. Nur ein paar Züge. Danach
war ich schon wie benebelt. Das war der Vorteil, wenn man nicht mehr oft
rauchte.
Ich sah mit heißem Kopf zu Lucia. Sie legte die Hände in den Nacken und
schüttelte den Kopf. Sie war verärgert, das sah ich an ihrem Blick.
Wahrscheinlich überlegt sie, ob sie mich hier einfach stehen lassen
sollte.
Was war nur wieder falsch gelaufen? Ich hatte so viele Bücher über die
Psyche gelesen. Eigentlich hatte ich sie nur gelesen um Fabienne bei der
Trauerbewältigung zu helfen. Doch vielleicht konnte ich von dem Gelesenen auch
etwas für mich finden. Es sollte mir eigentlich möglich sein, den Fehler zu
erkennen.
Okay, der andere Fahrer war sauer, weil ich seiner Meinung nach zu langsam
gefahren war. Gut, damit kann ich leben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen,
dass mich jemand darauf ansprach. Ich hätte es besser wissen müssen und gleich
weiter fahren sollen. Doch bevor ich auch nur irgendwas machen konnte, hatte
sich Lucia eingemischt. Es ist schon wirklich dreist einfach jemanden zu sagen,
er soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern und dann auch noch den
Mittelfinger zu zeigen, während man das Fenster schließt. Aber so ist sie halt.
Genau! So ist sie halt. Ich kritisiere sie deshalb auch nicht. Es ist ihre
Aufgabe, sich bei mir zu entschuldigen. Sie hat mir vielleicht geholfen, aber
danach hatte sie mich deshalb blöd angemacht.
Ich sah über den Stein hoch um zu sehen, ob sie sich wieder beruhigt hatte.
Meine Beine waren noch total wackelig. Fast wäre ich um geknickt. Ich hielt
mich an dem Stein fest und versuchte, mich mit den Händen nach oben zu ziehen.
Der Stein war ganz bröckelig und als ich es versuchte, schnitt ich mich an ihm.
„Mist“. Das Blut fing an zu fließen. Es brannte und ich war mir sicher, dass
der Dreck auch nicht sonderlich helfen würde. Diese kleinen blöden Steine waren
direkt auf dem Schnitt und ich konnte nicht sehen, wie tief er war. Also nahm
ich den Finger in den Mund um die Wunde zu reinigen. Nachdem das erledigt war,
sah ich es mir an. Nichts, das irgendwie nach einer OP oder einem Besuch im
Krankenhaus aussah. Also entschied ich mich wieder nach Lucia zu sehen. Sie saß
immer noch so da. In der Zwischenzeit hatte sie das Fenster auf gemacht und
ihre braungebrannten Beine baumelten raus. Ihr Leben musste so unbeschwert
sein. Das machte mich noch wütender als gerade eben noch. Schon verspürte ich
den Drang nach einer zweiten Zigarette. Ich glitt mit dem Rücken den Felsen
herunter und atmete wieder tief ein. Als ich merkte, wie das Nikotin zu wirken
begann, betrachtete ich die Gegend. Es war kahl hier. Alles staubig und
dreckig. Wie konnte man nur so leben? Ich hätte es wohl nicht geschafft. Gut,
ich wusste auch nicht genau, wohin es uns treiben würde. Ich war noch nie in
Eugene, Oregon gewesen. Aber auf den Fotos sah es schöner aus als hier. Das
Einzige, was hier gut war, war, dass man seine Ruhe hatte. Das kleine Dorf, das
ich von hier aus sah, sah verlassen aus. Seit wir hier standen und ich hinter
dem Felsen saß, waren gerade einmal zwei Autos an uns vorbei gerast. Ich
schloss die Augen und überlegte, ob ich wieder ins Auto steigen und so tun
sollte, als ob nichts gewesen wäre. Die Zigarette drückte ich an dem Felsen aus
und drückte meine unverletzte Hand auf den Boden. Als ich schon fast oben war
hörte ich die Tür meines Wagens. Lucia war bereits neben mir.
„Bleib sitzen. Ich denke, wir müssen uns mal unterhalten.“
Oh nein, wenn Lucia so was zu mir sagte blieb mir immer das Herz stehen.
Sie wollte mir bestimmt gleich mitteilen, dass sie keine Lust mehr hatte. Sie
würde mich und Fabienne alleine lassen. Womöglich würde sie mir anbieten,
selbst zum Flughafen zu fahren, damit ich nicht hinters Steuer müsste.
„Es tut mir Leid das ich dich angepöbelt habe.“ Mit Tränen in den Augen sah
ich zu ihr rüber.
„Ich weiß schon Youna. Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du weinst
oder dich schlecht fühlst.“
Damit hätte ich nicht gerechnet. Wie dumm ich war. Lucia wollte sich nur
bei mir entschuldigen und ich machte mir gleich wieder solche Gedanken. Ich
merkte nicht einmal wirklich, dass sich meine Mundwinkel nach oben zogen. Doch
nach ihrem Gesichtsausdruck verstand sie nicht einmal, über was ich mich
freute. „Freust du dich darüber, dass du gewonnen hast und ich mich mal wieder
bei dir entschuldigt habe?“
Das war falsch rüber gekommen. Doch bevor ich es ihr erklären konnte, fuhr
sie fort.
„Ich will nicht, dass du immer gleich so ein Theater machst, wenn so was
Banales wie gerade eben passiert. Ich habe mich bei dir entschuldigt, da ich
vielleicht ein wenig grob zu dir war.“
„Ich versuch es ja. Aber diesmal war es nicht meine Schuld. Der Typ hat
sich falsch verhalten und.“ Lucias Augen waren plötzlich irgendwo anders. Sie
begann zu einem Lied zu summen, das sie ständig im Radio spielten. Es war das
Lied, das wir permanent im Auto hören mussten, da es zur Zeit Fabiennes
Lieblingslied war. Das änderte sich schnell bei einer Elfjährigen die scheinbar
gerade in die Pubertät kam.
„Hörst du sie? Wenn wir angekommen sind muss sie unbedingt
Gesangsunterricht erhalten. Glaub mir, die Leute wären uns dankbar.“ Durch die
Fensterscheibe hörte sich alles gedämmt an. Man hörte nur, wie Fabienne zu der
Melodie lauthals mitsang. Sie hatte scheinbar von all dem nichts mitbekommen.
Oder sie ignorierte es einfach. Es war bei ihr schwer zu erkennen. Bei solchen
Situationen reagierte sie immer unterschiedlich. Meist jedoch verhielt sie sich
so wie jetzt.
„Wollen wir das nun klären oder nicht?“ Da war wieder die Wut von gerade
eben. Ich war zwar froh darüber, dass sie scheinbar nicht vorhatte, mich in
Stich zu lassen. Aber diese unbeschwerte Art ärgerte mich.
Lucia verstummte sofort. Es war merkwürdig, aber Lucia vergaß immer, dass
wir einen Streit hatten, sobald es um Fabienne ging. Sie und Fabienne waren so
viel besser miteinander ausgekommen. Alleine Lucias Augen, die anfingen zu
glitzern, wenn sie über Fabienne sprach, steigerten meinen Zorn.
„Du denkst vielleicht ich übertreibe, aber du hast keine Ahnung, auf was
ich alles Achten muss! Es ist nicht so einfach, auf eine Elfjährige aufzupassen
und deren Sicherheit zu gewährleisten.“ Und da war das eigentliche Problem. Ich
hasse Angst. Angst zu versagen und die falschen Entscheidungen zu treffen.
Lucia versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Doch es gelang ihr nicht.
„Was willst du mir jetzt schon wieder damit sagen? Weißt du vielleicht, wie
es ist? Ich muss so viele Dinge beachten, die mich noch ganz wahnsinnig machen.
Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer das ist?“ Diese Frage war
natürlich nur ironisch gemeint, ich hatte ja selbst keine Antwort darauf. Ich
hatte vielleicht das Sorgerecht erhalten, aber das lag wohl eher an Tante
Céciles guten Worten vor Gericht. Wie sollte man nun mit einem Kind umgehen,
das beide Eltern verloren hatte? Jeder schrieb was anderes und dadurch wusste
ich gar nicht mehr, an was ich glauben sollte.
Ich sah in Lucias Blick, dass sie nichts verstanden hatte. Als ich gerade weiter
machen wollte fing Lucia plötzlich an. Sie erklärte mir, dass sie genauso
Bescheid wusste wie ich. Sie habe ihrer Meinung nach auch viel Verständnis
gezeigt. Für die schwierige Lage, in der wir nun mal beide waren.
„Weißt du noch, als die Dame dich im Laden angesprochen hatte, als du
Fabienne diese teure Uhr gekauft hast, nur weil sie wieder einmal rum gezickt
hat? Ich habe verstanden, wieso du das gemacht hast. Und was habe ich der Dame
gesagt?“ fragte Lucia mich. Ich konnte mich noch genau an diesen Tag erinnern.
Es war wirklich schwierig mit Fabienne gewesen. Sie wusste, dass ich nach
meinem Geburtstag über unser gesamtes Vermögen verfügte. Sie nutze es schamlos
aus, mich bei jeder Gelegenheit um etwas zu bitten. Nein, bitten wäre zu nett.
Sie zwang mich eher dazu es ihr zu kaufen. Mein Gott, es war so schwer mit ihr
in der letzten Zeit. Alles, was sie wollte, bekam sie. Ich wusste, dass es
nicht richtig war. Aber der Schmerz, der in ihren Augen zu sehen war, jeden
Tag, wenn sie aufstand, war zu tief. Deshalb konnte ich nicht nein sagen. Lucia
sah mich wartend an.
„Du hast ihr gesagt, dass sie sich um ihren eigenen Scheiß kümmern soll.
Sollte das etwa hilfreich sein?“ fragte ich ironisch.
„Ja es war hilfreich. Fabienne ist deine Schwester und du kannst ihr
kaufen, was du willst und diese Frau hat sich nicht einzumischen. Du willst,
dass sie gesund isst? Meinetwegen kannst du ihr den Zucker ruhig verbieten. Aber
halte dich auch daran. Denn wenn es dir mal wieder zu schwierig ist mache ich das!
Hast du das eigentlich schon einmal bemerkt?“
Natürlich hatte ich es bemerkt. Aber es machte mich traurig zu sehen, wie
sehr Fabienne auf sie hörte und mich nicht einmal beachtete. Ich wollte ihr
antworten, aber nichts von der Eifersucht erzählen die ich verspürte, wenn ich
sie so zusammen sah. Immer wenn ich anfangen wollte auf diese Fragen
einzugehen, fuhr sie fort. Lucia zählte weiter auf. Sie hat mich wirklich immer
in solchen Situationen unterstützt, doch ich verstand nicht genau, was sie mir
damit sagen wollte. Ich hatte sie schon lange nicht mehr so wütend gesehen.
Ihre Nasenflügel öffneten sich auf eine unnatürliche Weise schneller als sonst,
die rechte Augenbraue war hochgezogen und ihr Gesicht war feuerrot. Was witzig
war, denn sie wurde so gut wie nie rot. Ihre braungebrannte Haut lies es
normalerweise nicht zu. Doch heute war es so weit.
„Ist dir eigentlich klar, dass ich mich selbst nie als Einzelkind gesehen
habe? Seit du in mein Leben getreten bist habe ich mich als deine Schwester
gefühlt. Ich fühle mich deiner kleinen Familie gerade mehr verbunden als meiner
eigenen. Ich gehöre auch zu dieser Familie! Ich habe angenommen, dass wir hier
gleich gestellt sind und ich auch etwas zu sagen habe.“ Nun fühlte ich mich
schlechter als gerade eben noch. Lucia hatte Recht. Mit allem was sie sagte. Es
stimmte. Sie hatte nie Geschwister gehabt und seit ich denken konnte, war sie
meine beste Freundin. Nie hatte sie sich darüber beschwert. Ich war auch, ohne
eingebildet zu klingen, eine recht gute Freundin. Doch in den letzten drei
Jahren brauchte ich sie mehr als sie mich.
„Wir beide haben unser Leben auf den Kopf gestellt. Ich will meine
Situation nicht mit deiner vergleichen, doch Fabienne ist auf uns beide
angewiesen. Wir haben die Verantwortung für sie und ich habe mein Leben so
bedingungslos verändert, damit es klappt. Also erzähl mir nicht, dass ich nicht
weiß, wie es ist!“ Ihre Stimme wurde lauter als sie weiter sprach.
„Das Leben ist zu kurz und man kann einfach nicht alles kontrollieren. Wann
wirst du das endlich kapieren?“ Als sie das gesagt hatte wurde ihre Stimme
wieder sanfter. Ich sah ihr an, dass das was ich gesagt hatte, sie verletzt
hatte. Vielleicht war es die eigene Erkenntnis, was sie alles aufgegeben hatte.
Ich konnte es in ihrem Gesicht nicht lesen. Doch sie war enttäuscht, das war
klar.
„Das alles hier ist nicht einfach. Das ist mir schon klar. Doch hör auf,
dir über alles tausend Gedanken zu machen. Du machst dich hier kaputt und das
hilft keinem von uns.“
Sie nahm meine Hand und beugte sich über mich. Sie strich sich eine
dunkelbraune Locke aus dem Gesicht und sah mir tief in die Augen. Ihre
hellgrünen Augen durchbohrten mich regelrecht. Da erkannte ich ihre Angst. Sie
war eben auch nur ein Teenie, der zu schnell ins Erwachsenenleben gezogen
worden war. Für mich sah es bis zu diesem Zeitpunkt eher danach aus, als würde
sie sich über Nichts Gedanken machen. So als hätte ihr dieser ganze Trip
irgendwie Spaß gemacht. Wo er doch so an meinen Nerven gezehrt hatte.
„Lass dich nicht immer so verunsichern. Du hast das mit Fabienne bis jetzt
so gut gemeistert.“ Ich pfiff ungläubig. Das schien sie zu stören, denn ihr
Gesicht wurde wieder härter.
„Du siehst es wirklich nicht oder? Wie großartig du das alles hier
schaffst. Dann gibst du ihr ab und zu mal was sie haben will. Das machen doch
alle Mütter so. Oder in deinem Fall alle Schwestern.“
Das schlechte Gewissen kam, ich spürte es von ganz unten. Das war so unfair
von mir gewesen. Ich hatte sie bisher so falsch eingeschätzt. Wie sollte ich
das nur wieder gut machen? Ich hatte tatsächlich diesen Trip geplant, ein Haus
in Eugene Oregon, einer mir völlig fremden Stadt und dieses neue Auto gekauft.
Ja, wir waren sogar alle schon in einer Schule angemeldet. Doch meine Gefühle
hatte ich nie sonderlich unter Kontrolle. In ihrem Blick und aus der Erfahrung
heraus wusste ich, dass sie mir irgendwann verzeihen würde, aber könnte ich es
je? Es war schließlich sie gewesen, die ihr Leben mit aufgegeben hatte, um mir
eine Unterstützung zu sein.
„Du hast recht und eigentlich weiß ich es, aber manchmal habe ich das
Gefühl, dass du einfach gehen kannst, wenn du es willst. Und ich eben
nicht.“
Lucia wollte mich gerade unterbrechen, doch ich war noch nicht fertig.
Ich wollte nicht, dass sie mich falsch versteht.
„Nicht, dass ich das je wollte, aber nur der Gedanke daran, dass es nie
mehr so wird, wie es früher einmal war, ohne diese riesige Verantwortung, das
macht mich fertig.“
„Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich dich niemals alleine lassen
würde. Egal, wie blöd es gerade aussieht. Das solltest du eigentlich wissen.“
Lucia stand auf und reichte mir ihre Hand. Dies war nicht nur eine Geste,
um mir hoch zu helfen. Nein, ich denke sie wollte mir symbolisch zeigen, dass
wir hier Hand in Hand arbeiten. Ich musste sie einfach umarmen. Zwar hatte ich
keine Ahnung, ob sie das jetzt überhaupt wollte, doch ich brauchte eine. Sie
wehrte sich nicht, aber es gab nur einen leichten Drücker zurück. Hätte ich nicht
gut aufgepasst, hätte ich nicht mal gemerkt, dass sie mich umarmte.
„Könntest du vielleicht weiter fahren? Ich bin einfach kaputt.“ Ich wollte
ihr zeigen, dass ich verstanden hatte. Doch sie nickte nur, nahm dem Schlüssel
den ich ihr hinhielt und öffnete die Tür.
Ich hatte mich entschuldigt, aber das reichte diesmal nicht aus. Ich dachte
darüber nach, was Lucia alles für mich getan hatte. Sie war mir mit ihren
gerade mal 15 Jahren nach New York gefolgt. Sie hatte den größten Streit mit
ihren Eltern in Kauf genommen, damit sie mitkonnte. Sie hatte eine Klasse
ausgesetzt, um mit mir zu Hause eine Art Trauerbewältigung zu machen. Dadurch
hat sich auch das College verschoben und nun musste sie schon wieder von neuem
anfangen. Alles nur meinetwegen. Und ich dankte es ihr, in dem ich ihr vorwarf,
sie könnte einfach gehen, wann es ihr passte.
Wir stiegen stumm ein. Sie ließ den Wagen wieder an und sang zu einem Song,
der im Radio lief.